Kommunikation mit Literaturverwaltungsdatenbanken. Ein kontrafaktischer Erfahrungsbericht

Andreas Kaminski, Alexander Friedrich

Hätte Niklas Luhmann seinen berühmten Zettelkasten als digital vernetztes Literaturverwaltungsprogramm angelegt, wenn er so bequeme und elaborierte Möglichkeiten dafür gehabt hätte wie jene, die inzwischen dafür verfügbar sind? Und wenn er es getan hätte, würde er am Ende doch wieder auf sein papierbasiertes Aufschreibesystem zurückwechseln? – Begeben wir uns auf eine imaginäre Spurensuche… 

Als Luhmann durch Internetwerbung, Informations- und Lizensierungsangebote seiner Bibliothek sowie begeisterte Kommentare seiner Kolleg:innen in den sozialen Medien auf verschiedene Programme aufmerksam geworden war, die in enger Zusammenarbeit mit der akademischen Community entwickelt und kostenfrei angeboten wurden, hatte er – nach anfänglicher Skepsis, gleichwohl mit Neugierde – verstanden, welche Möglichkeiten ihm die Tools boten. Er begann, sich einen digitalen Zettelkasten einzurichten und brachte sich auch bald mit eigenen Wünschen und Vorschlägen für die Entwicklung des Programmes ein, die von der Community eifrig aufgenommen wurden.[1] Schon bald war der digitale Zettelkasten zu einem ständigen Begleiter seiner Arbeit geworden. Wenn er einen Text las, notiert er darin rasch seine Exzerpte, Zitate, Zusammenfassungen und Kommentare. Die Notizen ergänzte er durch Schlagworte wie Kommunikation, Wissenschaft, Komplexität usw., versah sie mit Links zu weiterführenden Internetquellen oder Dateien auf seinem Computer.   

Über die Jahre hinweg waren nicht nur der Umfang des digitalen Zettelkasten, sondern auch dessen Möglichkeiten immens angewachsen. Dank der beständigen Weiterentwicklung der Software wurden neue und immer mächtigere Funktionen ergänzt. Die akademische Community unterstützte die Entwickler mit Hinweisen und Nutzerwünschen. Zunächst kam die hilfreiche Option hinzu, bibliographische Daten per DOI fast automatisch in den Zettelkasten aufzunehmen. Bald konnten Texte als PDFs selbst in den Zettelkasten integriert werden. Anschließend war es sogar möglich, Texte direkt im Viewer der Literaturverwaltung zu lesen und zu annotieren. Wenn Luhmann einen Abschnitt gelb markierte, wurde die Passage automatisch als Zitat in seinen Zettelkasten übernommen, samt formatiertem Quellennachweis. 

Später kam noch die Möglichkeit hinzu, ein virtuelles Inhaltsverzeichnis im Zettelkasten anzulegen. Luhmann plante, einen Text über die Organisation von Wissen in digitalen Aufschreibesystemen, er entwarf den Gedankengang dafür im Zettelkasten. Dazu notierte die Kapitel und Abschnitte des zu schreibenden Manuskripts und fügte ihnen anschließend Zitate, Notizen und Kommentare hinzu. Über Schlagworte und Querverweise füllten sich die Kapitel dann wie von selbst mit den damit verknüpften Zetteln, die dann nur noch selektiert und in eine gedankliche Ordnung gebracht werden mussten.

Sobald er sein Textverarbeitungsprogramm öffnete und mit dem Schreiben begann, konnte er durch ein Plug-In seine Zettel im Text einblenden und bibliographische Angaben durch einfaches Hinüberschieben ergänzen. Oder er zog ein Zitat aus dem digitalen Zettelkasten in das Manuskript, an dem er gerade arbeitete, und die bibliographischen Angaben dazu wurden daraufhin automatisch ergänzt. Löschte er das Zitate, wurden die Angaben automatisch entfernt. Sehr bequem.

Im Laufe dieser Entwicklung wanderte der Zettelkasten von Luhmanns Computer, wo er als Programm auf dem Desktop ausgeführt wurde, in die Cloud. Dadurch war es ihm nicht nur möglich, von „überall“ auf seine Zettelsammlung zuzugreifen. Er konnte sie zudem in Teilen oder im Ganzen mit Kolleginnen und Kollegen teilen, die wiederum ihrerseits zum Wachstum des Zettelkastens beitragen konnten.

Luhmann dachte darüber nach, wie der digitale Zettelkasten seine Arbeitsweise erleichtert, erweitert oder überhaupt erst ermöglicht. Er konnte schneller arbeiten, bibliographische Daten mussten nicht händisch erfasst oder in Literaturverzeichnisse eingefügt werden, Zitate nicht mehr abgetippt, Texte nicht auf einen Kopierer gelegt und nach der Ablage wiedergefunden werden. Über die Jahre hatte sich der Zettelkasten zu einem Archiv entwickelt, dass er mit seinem persönlichen Gedächtnis allein nicht mehr überblicken konnte: Er enthielt eine beträchtliche Zahl von bibliografischen Daten, Texten in PDF-Form, Zitaten, Notizen sowie ein umfangreiches Schlagwortsystem. Vor allem die Verwaltung und Pflege seines speziellen Verweissystems war mithilfe der Digitaltechnik spielend leicht zu bewältigen. Raumprobleme entstanden auf absehbare Zeit auch keine. Der Zettelkasten war zudem über die Jahre so eng mit seinem Arbeitsprozess zusammengewachsen, dass er sich kaum vorstellen mochte, ohne ihn auszukommen. Das Ergebnis seiner Überlegung zur Frage, wie das Programm seine Arbeitsweise, seinen Arbeitsalltag, ja sein Leben strukturierte, brachte er schließlich in die Form eines Aufsatzes: „Kommunikation mit Literaturverwaltungsprogrammen. Ein Erfahrungsbericht“.[2]

Die Geschichte von Literaturverwaltungsprogrammen hat häufig einen ähnlichen Anfang und eine ähnliche Entwicklung. Programme wie EndNoteMendeley oder Citavi (vormals LiteRat) haben ihren Ursprung in akademischen Kreisen. EndNote wurde 1985 in Berkeley (Californien) von Dr. Richard Niles gegründet, einem Mathematiker, der – wie die Firmenwebsite von 1995 schildert – bemerkte, dass seine Frau, die ebenfalls Wissenschaftlerin war, Stunden damit zubrachte, Bibliographien in die von verschiedenen Verlage verwendeten unterschiedlichen Formate zu bringen.[3] Der Vorläufer von Citavi wurde von Hartmut Steuber, dem damaligen Leiter der Informationsstelle Erziehungswissenschaft, gemeinsam mit zwei studentischen Mitarbeitern an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf entwickelt. Auch aus seiner Sicht stand ein Defizit am Anfang der Entwicklung: Es fehlte, so Steuber, ein Programm, um „Literatur für Publikationen und Seminararbeiten“ auswerten zu können.[4] Die erste Version namens LiteRat Classic erschien 1995.[5] Um die Finanzierung und damit Weiterentwicklung zu sichern, gründeten sie später das Unternehmen Swiss Academic Software. Es entwickelte Citavi zu einer der erfolgreichsten Literaturverwaltungen, insbesondere im deutschsprachigen Bereich. Nach eigenen Angaben können 85 % der Studierenden an deutschen Hochschulen Citavi dank einer (kostenpflichtigen) Campuslizenz die Software kostenlos nutzen.[6] Mendeley wurde von Doktoranden 2008 gegründet.[7] Durch den wie schon bei Endnote und Citavi betonten Fokus auf die gemeinsam mit der akademischen Community erfolgte Entwicklung der Literaturverwaltung genoss es bald eine ausgezeichnete Reputation. Da Mendeley auf Kollaboration beruhte, galt es als guter Rebell gegen die Lizenzschwellen der Verlage, die den akademischen Dialog mit oft beträchtlichen Bezahlschranken erschwerten.[8]

Was diese Literaturverwaltungen neben ihrer Einbindung in die akademische Community ferner gemeinsam haben: Sie wurden in den letzten Jahren von anderen Unternehmen, darunter auch großen Verlagshäusern aufgekauft. Der Aufschrei war groß, als Elsevier 2013 Mendeley erwarb – für 100 Millionen Dollar.[9] Elsevier galt in einigen Kreisen als das Gegenteil von Mendeley – als „evil“, als „bad crowd“.[10] EndNoteTM war zwischenzeitlich von Reuters aufgekauft worden, bevor es an einen anderen Großverlag ging: Clarivate Analytics. Auch Citavi ist 2021 von einem anderen Unternehmen erworben worden: QSR International. Es handelt sich um einen Entwickler von Software zur Datenanalyse. 

Das Schreiben beginnt beim Lesen. Die soziologische Frage Luhmanns war: Wie verändert sich das Denken, wenn sein digitaler Zettelkasten kommerziellen Verlagen und Datenhändlern gehört? Begonnen hatte die Aufzucht seines Zettelkastens als eine Art koevolutionärer Prozess des Sammelns und Verweisens und Ergänzens. „Als Ergebnis längerer Arbeit mit dieser Technik entsteht eine Art Zweitgedächtnis, ein Alter ego, mit dem man laufend kommunizieren kann. Es weist, darin dem eigenen Gedächtnis ähnlich, keine durchkonstruierte Gesamtordnung auf, auch keine Hierarchie und erst recht keine lineare Struktur wie ein Buch.“[11] Inzwischen ist dieses Gedächtnis über das Internet aber noch an ein viel größeres angeschlossen. „Jede Notiz ist nur ein Element, das seine Qualität erst aus dem Netz der Verweisungen und Rückverweisungen im System erhält“, erkannte Luhmann: „Eine Notiz, die an dieses Netz nicht angeschlossen ist, geht im Zettelkasten verloren, wird vom Zettelkasten vergessen.“[12] – Was aber, wenn dieses Netz Teil eines noch größeren Netzes wird, in dem nichts mehr vergessen wird? 

Die Tools sind längt nicht mehr nur „Referenzmanager“. Sie zielen darauf ab, den gesamten Forschungsprozess zu strukturieren und in ein Werkzeug zu integrieren, das Infrastruktur fürs Denken, Lesen und Schreiben sein will. Dass diejenigen, die das Lesen und Schreiben als eine zu verfeinernde Kunstfertigkeit erleben, diese auch mittels virtuoserer Werkzeuge weiterentwickeln wollen, ist verständlich. Und die Veränderungen, die die anschmiegsamen Tools mit sich bringen, sind nicht leicht zu erfassen. Es ist zunächst ein Unbehagen darüber, dass die vielen Stunden Arbeit am Zettelkasten (als Daten) nun so eng mit den Entscheidungen von Unternehmen verbunden sind. 

Luhmann hatte am Abend eine Mail von einem Kollegen erhalten, der ihm seinen neuesten Aufsatz zuschickte. Die Frage war, ob er die Datei des Textes in die Datenbank seiner Literaturverwaltung aufnehmen sollte. Seine Universität subskribierte die Zeitschrift nicht, in der der Aufsatz erschienen war. Sein digitaler Zettelkasten gehörte einem Verlag, der den Abonnementstatus über eine Lizenzabfrage leicht feststellen kann. Und über seine individuelle ID, mit der die großen Wissenschaftsdatenhändler den Wissenschaftsautor Luhmann längst erfasst hatten, um seine ID mit allen verfügbaren Informationen über sein Lese-, Schreib-, Kommunikations- und Konsumhalten zu verknüpfen,[15] ist ebenfalls leicht feststellbar, dass er diesen Text nicht selbst gekauft, sondern über den „Schattenmarkt“ erhalten hat. Doch die Online-Tauschbörsen der Wissenschaft wurden in den letzten Jahren massiv attackiert. Zunehmend wurden auch Individuen für Urheberrechtsverstöße verfolgt. Das reichte bis in die Lehre hinein; Dateien, die in Seminaren zu Unterrichtszwecken angeboten wurden, mussten bis auf Komma genau erfasst und lizenziert werden. Bei Verstößen drohten immense Strafen, so wie längst schon bei illegalen Musik- und Filmtauschbörsen. 

Elsevier, das Mendeley übernahm, hatte sich für den Stop Online Piracy Act (SOPA) eingesetzt, einem Gesetzesentwurf, der 2011 im US-amerikanischen Repräsentantenhaus eingebracht wurde, um weitreichende Maßnahmen zur Durchsetzung von Urheberrechts- und Verwertungsansprüchen einzuführen. Zu Clarivate Analytics gehört neben EndNoteTM das Web of Science, das die Datenbanken mehrere Disziplinen miteinander verbindet und mit Zitationsdaten auch Impact-Faktoren ermitteln will. Ferner ist Clarivate Analytics im Besitz von CompuMark und MarkMonitor: zwei Services, die darauf spezialisiert sind, Markenrechtsverletzungen zu ermitteln bzw. Antipiracy-Lösungen anzubieten. 

Gibt es vielleicht etwas Ähnliches zur Überprüfung der Texte im Zettelkasten? 

Die großen Verlage haben, wie beobachtet worden ist, ihr Geschäftsmodell verändert: Das Verlegen von Texten ist nurmehr ein Element, man ist auf dem Weg, sich in einen Datenhändler und -analytiker zu verwandeln. Dazu gehört auch, Themen und Forschungstrends frühzeitig zu erkennen und aufzugreifen. 

Nachdem Luhmann einen Text mit Habermas veröffentlicht hatte, wurden ihm fortan zunehmend Texte zur Diskurstheorie empfohlen, ein Text des Mathematikers Spencer-Brown wurde von seinem digitalen Zettelkasten indessen als irrelevant betrachtet, und daher in seiner Literaturrecherche nicht angezeigt

Elsevier, das selbst zur REALX Group gehört, bietet inzwischen unter dem Namen Pure ein „Research Information Management System an“, es verspricht einen „evidenzbasierten Ansatz im Hinblick auf die Forschungs- und Kollaborationsstrategien, die Assessment-Übungen und die alltäglichen Geschäftsentscheidungen Ihres Instituts.“ Es bietet eine Integration von anderen Services wie SciVal, Scopus, Plum Analytics oder NewsFlo an und soll dabei helfen, Forschungstrends zu erkennen und Institutionen zu benchmarken.[13]  

Luhmann überlegte, ob er den digitalen Zettelkasten verlassen sollte. Oder zumindest zu einer anderen, nichtproprietären Software wechseln sollte. Das Problem war, dass es nicht leicht ist, die einmal in den alltäglichen Gebrauch eingewobene Infrastruktur aufzugeben. Das Problem der Pfadabhängigkeit: Migration wird alles andere als unproblematisch. Viele Jahre Arbeit waren in das Netz von Literatur, Zitaten, Schlagworten eingegangen. Das alles lässt sich nicht ohne großen, vielleicht zu großen Aufwand umtopfen. Ein Lock-in, das die jahrzehntelange Arbeit faktisch irreversibel an den einmal erschaffenen Zettelkasten bindet – weil Information endlos, die Lebenszeit aber begrenzt ist.

2008 hatte EndNoteTM eine Klage gegen die George Mason University eingereicht, die Entwickler hinter Zotero.[14] Zotero ist ein Literverwaltungsprogramm, das als freie Open Source-Software angeboten wird. EndNoteTM klagte, weil Zotero die Möglichkeit bot, die Daten in EndNoteTM nach Zotero zu migrieren und dafür eine technische Lösung zur Verfügung stellte. Diese verletze, so EndNoteTM, die Lizenzrechte, da sie mit dem spezifischen Format von EndNoteTM arbeite. Die Klage wurde abgewiesen. 


[1] Vgl. http://www.zettelkasten.danielluedecke.de.

[2] Zur kontrafaktischen Gegenlektüre: Niklas Luhmann: „Kommunikation mit Zettelkästen: Ein Erfahrungsbericht“. In: Universität als Milieu: Kleine Schriften, hrsg. v. André Kieserling, Bielefeld: Haux 1992, S. 53–61. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=4veq2i3teVk (Aufruf vom 1.12.2021).

[3] So nachzulesen auf der Firmenwebsite von Niles & Associates, Inc. aus dem Jahr 1995, die dank archive.org dokumentiert ist. Vgl. https://web.archive.org/web/19961112110744/http://www.niles.com/home/Company.htm (Aufruf vom 01.12.2021).   

[4] https://www.b-i-t-online.de/heft/2016-01-firmenportraet-citavi.pdf (Aufruf vom 30.11.2021).

[5] https://web.archive.org/web/20031008050454/http://www.literat.net/net_info.html (Aufruf vom 30.11.2021). 

[6] https://www.b-i-t-online.de/heft/2016-01-firmenportraet-citavi.pdf (Aufruf vom 30.11.2021).

[7] https://blog.mendeley.com/2008/03/11/hello-world/ (Aufruf vom 26.11.2021)

[8] https://www.newyorker.com/tech/annals-of-technology/when-the-rebel-alliance-sells-out (Aufruf vom 26.11.2021)

[9] https://www.theguardian.com/media/2013/apr/09/reed-elsevier-buys-mendeley (Aufruf vom 01.12.2021)

[10] Vgl. etwa nicht untypische Reaktionen auf Twitter: https://twitter.com/zephoria/status/321602939682701312?s=20

[11] Luhmann: „Kommunikation mit Zettelkästen“, S. 57. 

[12] Ebd. S. 58.

[13] https://www.elsevier.com/de-de/solutions/pure (Aufruf vom 10.11.2021). Siehe dazu auch den Beitrag von Dawid Kasprowicz.

[14] https://en.wikipedia.org/wiki/EndNote (Aufruf vom 02.12.2021).